Geschehen, neu gesehen. - "Wahre Geschichte"

Die Schweiz im Visier: "Bewaffnete Neutralität"

Am 1. September 1939 begann in Europa der Krieg. Angesichts der sich abzeichnenden Bedrohung berief die Schweiz ihre Mitbürger zum Wehrdienst ein. Das Land und seine Armee sahen sich einer möglichen Invasion jedoch nicht gewachsen. Zudem war die schweizerische Volkswirtschaft weitgehend importabhängig, vor allem von deutscher Kohle. Daher bemühte sich die Schweiz, die Kontakte mit allen Partnern weiterhin zu pflegen, ohne ihre traditionelle Neutralität aufs Spiel zu setzen.
Einige Monate später gewann die Wehrmacht den Krieg an der Westfront gegen Frankreich, die britische Armee war auf der Flucht. Und die Schweiz war eingekesselt. Aus Pragmatismus und um ihren mächtigen Nachbarn nicht vor den Kopf zu stoßen, entschied sich die Alpenrepublik für eine drastische Verschärfung ihrer Flüchtlingspolitik. Tausende Juden wurden an den Grenzen abgewiesen, während das Internationale Rote Kreuz mit seinen humanitären Diensten versuchte, den Ruf des Landes aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig wurden die Schweizer Banken zu willfährigen Hehlern des in den besetzen Ländern gestohlenen Nazigoldes. Die schweizerische Industrie lief auf Hochtouren, um die Wehrmacht mit Waffen und Ausrüstung zu beliefern, und schweizerische Tochterunternehmen in Deutschland beteiligten sich ohne Skrupel an den deutschen Kriegsanstrengungen.
Mit Kriegsbeitritt der USA im Jahr 1942 wurden die Beziehungen zwischen Bern und Berlin zunehmend anrüchig, zumal sich die Schweiz mit ihren Gefälligkeiten immer stärker kompromittierte. Trotz allen Drucks behielt sie jedoch ihren Kurs bei und setzte weiter auf eine boomende Wirtschaft als Garant der vielbeschworenen Neutralität. Erst in den letzten Kriegsmonaten verwehrte Bern Deutschland die zahlreich genossenen Finanzvorteile.
Während Europa in der Nachkriegszeit am Boden lag, erfreute sich die Schweiz bester Gesundheit. Nur ihr Ruf war etwas ruiniert. Doch sehr schnell konnte die Schweiz ihr früheres Prestige zurückgewinnen. Die Kungelei mit dem Dritten Reich war vergessen. Erst 2002 offenbarten die Archive der Banken und großen Firmen, dass Bern - bewusst oder unbeabsichtigt - die Kriegsanstrengungen der Nazis kräftig unterstützt hatte. Die Schweizer debattierten, entschuldigten sich, entschädigten die Opfer und schlossen in der Überzeugung, die Vergangenheit hiermit bewältigt zu haben, wieder ihre Archive.
Die Geschichtsschreibung ist keine starre, exakte Wissenschaft, sondern sie unterliegt einem andauernden Prozess der Ausdifferenzierung, der Weiterentwicklung und des Hinterfragens. Mit voranschreitender Forschung decken Historiker häufig ein Bild der Realität auf, das vielschichtiger ist als die bis dato gemeinhin angenommenen Vorstellungen. Mit der Dokumentationsserie "Wahre Geschichte" nimmt ARTE geschichtsträchtige Personen und Ereignisse in den Fokus und betrachtet diese aus einer neuen Perspektive.

Die Sendung wird ausgestrahlt am Freitag, den 15.01.2021 um 11:20 Uhr auf arte.