Alltagsdroge Crystal Meth

Der Rausch der Dunkelziffer

Quelle: ARD-Pressebild
Quelle: ARD-Pressebild

Die Spitze der anhaltenden "Crystal-Welle" ist spürbar, ihre große Dynamik in der Mitte der Gesellschaft wird politisch weitgehend ignoriert. Warum das Thema auch "strapazieren"? Meint der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Sebastian Fiedler: "Ich kenne keine Partei, die sich der gesellschaftlich hochkomplexen Gefahr der neuen Alltagsdroge Crystal Meth bewusst ist."
Die Dokumentation zeigt die zunehmende Brisanz des Themas. Crystal Meth ist in allen Gesellschaftsschichten und allen Landesteilen angekommen, Herstellung und Handel werden zunehmend professioneller - und krimineller.
2014 sorgte die synthetisch hergestellte Droge "Crystal Meth" für Schlagzeilen: rund um die deutsch-tschechische Grenze wurde der Stoff kiloweise sichergestellt, die Zahl der Süchtigen stieg jährlich um den Faktor 4, Drogendelikte nahmen innerhalb von vier Jahren um 100 Prozent zu. Elfährige, die das Metamphetamin konsumierten - das schien in der Bundesrepublik bis dahin kaum vorstellbar.
Furchteinflößende "Faces of Crystal Meth" machten die Runde, Politiker in den grenznahen Ländern setzten die neue Drogenwelle auf ihre Tagesordnung. Ein Jahr später nahm schon kaum einer mehr Notiz von der "Horrordroge", die "Flüchtlingskrise" und die Terrorismusgefahr bestimmten die öffentliche Meinung.
2016 verzeichneten die Vereinten Nationen Crystal Meth nach Cannabis als die "weltweit inzwischen am häufigsten konsumierte illegale Droge" (UNOdoc). Die Zahl der Konsumenten wurde damals auf gut 34 Millionen geschätzt. Mehr als die addierte Summe aller Heroin- und Koksabhängigen.
2019: Der Drogenberater der Caritas in Passau, Julius Krieg konstatiert: "Crystal Meth ist entlang der Grenze zu einer Alltagsdroge geworden. Das Zeug tritt dominanter als jede andere Droge auf und erreicht alle Schichten. Ja man kann sagen: Mittlerweile nimmt Crystal Meth einen festen Platz in der Gesellschaft ein." Im Gegensatz zu den "Faces of Crytal Meth", die beim Konsum einen körperlichen Verfall innerhalb von Wochen vorgaukeln, weisen "aufgeklärte" Konsumenten auf ihren kontrollierten Umgang mit der Droge hin, der sie jahrelang mit Crystal leben und arbeiten lässt. Denn im Gegensatz zu Cannabis oder Heroin ist Crystal Meth eine hochwirksame Funktions- und Leistungsdroge, die zum Optimierungsprinzip der heutigen Zeit passt: Einsteigen und Aufsteigen statt Aussteigen und Abhängen. Die aufputschende Wirkung ist enorm und anhaltend, die Herstellungskosten sind günstig, die Gewinnspanne ist groß.
Als die erste "Crystal-Welle" Anfang der 2010er Jahre "hochschwappte", wollte man das Thema so klein wie möglich halten und das so lange wie möglich, so der als "Crystal-Guru" bekannte Therapeut Roland Härtel-Petri: Die damalige Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Mechtild Dyckmans, tat Crystal Meth als rein regionale Besonderheit ab - quasi als eine Art "Ostsyndrom". Eine Strategie "politischer Deckelung", die bis heute wirkt: Kaum ein Landrat oder Bürgermeister mag das Thema auf die Tagesordnung setzen, um Investoren und Touristen nicht zu verschrecken.
Dabei existiert seit 2013 das europäische Siedlungshydrologie-Projekt SCORE, das Drogenrückstände aus dem Abwasser von Kläranlagen analysiert und dadurch exakte Zahlen über den Konsum von Drogen in Regionen und Städten liefert. "Unser aktuelles Problem ist", erläutert der deutsche Leiter von SCORE an der TU Dresden, Björn Helm: "Die Mitarbeit von Städten und Gemeinden ist freiwillig und unsere staatlichen Fördermittel sind sehr begrenzt. Dabei können wir zum Beispiel bei Crystal Meth keinen Rückgang feststellen." Ein Gesetz, das Drogen-Abwasserproben und -analysen kontinuierlich und flächendeckend durchsetzen würde, wurde bisher nicht debattiert. "Dabei könnten weitreichendere Analysen eine Art 'Frühwarnsystem' bei Veränderungen des Drogenkonsums und damit auch des Drogenhandels darstellen", so Björn Helm.
Doch jenseits des Tagesgeschäftes der zuständigen Ermittlungsbehörden scheint die politische Agenda immu
n gegenüber wirksameren Taten und Gesetzen zu sein. Die Crystal-Szene besteht ja nicht aus Junkies, sondern im Durchschnitt aus unauffälligen, fleißigen Bürgern. Der Rausch der Dunkelziffer spielt sich zu Hause oder auf Partys ab. "Auf der Grundlage allgemeiner politischer Ignoranz", kommentiert der europäische Crystal-Expert und Leiter des tschechischen Dogendezernats, Jakub Frydrych, "wird der immens lukrative Crystal-Handel weiter zunehmen, die Crystal-Produktion von der Organisierten Kriminalität zunehmend übernommen und unser Kampf immer aussichtsloser." Und das nicht nur in der Mitte und im Osten Europas.
2020: Seit einem Jahr sprechen Drogenfahnder im Münsterland von einer bisher noch nicht da gewesenen "Crystal-Schwemme". In den vergangenen Monaten wurden mehrere hundert Kilogramm Crystal Meth beschlagnahmt. Crystal-Produzenten und -Dealer aus dem europäischen Westen, vor allem aus der niederländischen Provinz Brabant, drängen auf den deutschen Markt. Im Hintergrund der niederländischen "Großköche" agieren mexikanische Kartelle, die die Niederländer mit den Rohstoffen versorgen. In Rotterdam, aber auch in norddeutschen Häfen wurde die Chemikalie "Apaan", ein Grundstoff zur Crystal-Herstellung, gleich tonnenweise sichergestellt.
Der Metamphetamin-Markt ist spürbar in Bewegung: "Wir verzeichnen schon die Abwanderung vietnamesischer 'Crystal-Köche' von Tschechien in die Niederlande", erklären unisono Jakub Frydrych und Uwe Einsporn, der für die Drogenfahndung im sächsischen LKA zuständig ist: "Warum wohl?" Nach Meinung aller Experten wäre eine neue "Crystal-Welle", die aus den Niederlanden überschwappt, eine Art Drogen-GAU: Allein Nordrhein-Westfalen besitze eine große Partyszene, die sich bisher "nur" mit dem wesentlich schwächeren Amphetamin "Speed" berauscht.
2020: Der Glaube ist nicht mehr das Opium fürs Volk, das neue Schmiermittel der Optimierungsgesellschaft ist eine handfeste Leistungs-Droge. Die "Horrorvorstellung" einer neuen massiven "Crystal Welle" scheint bereits Realität geworden zu sein. "Wir stellen in und um Nürnberg seit einigen Monaten Crystal im Kilobereich sicher", so der Erste Kriminalhauptkommissar der Kripo Nürnberg, Christian Böhaker: "Einige Lieferungen davon können wir niederländischen Laboren zuordnen.
Da scheint eine neue Welle auf uns zuzukommen." Und wie es der Zufall will: Am 29. Januar 2020 stoppten Beamte der Passauer Grenzpolizei bei einer Routinekontrolle einen Pkw mit niederländischem Kennzeichnen, darin versteckt zwei Kilogramm bestes kristallines Metamphetamin (Crystal Meth).
"Die Versorgung der Konsumenten mit Crystal ist bei uns in Niederbayern weiterhin hervorragend", bilanziert der Caritas-Drogenberater in Passau, Julius Krieg, im Juni 2020: "Trotz der Covid-19-Pandemie und der monatelangen Schließung der deutsch-tschechischen Grenze!"
Film von Annika Hoch, Christian Gramstadt und Danko Handrick

Die Sendung wird ausgestrahlt am Montag, den 11.01.2021 um 22:50 Uhr auf Das Erste.