Zuhause gesucht



Längst hat die Wohnungslosigkeit auch den Mittelstand erreicht. Gerade die explodierenden Mieten in den Städten machen es so schwer, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Hauptsache, ein Dach über dem Kopf Schon zwei Monate Mietrückstand reichen aus, um die Wohnung zu verlieren. Im Oktober 2019 landete Petra P. mit ihrem achtjährigen Sohn Deniz und ihrer schwer kranken Mutter im Wohnheim. Auf 18 Quadratmetern leben sie zu dritt, das entspricht ungefähr der Größe von vier Tischtennisplatten. Und doch ist es für sie erst einmal viel: "Wir haben ein Zimmer, das ist besser, als auf der Straße zu leben." "37°" begleitet die Familie über sechs Monate im Wohnungslosenheim, in dem sie sich mit acht anderen wohnungslosen Familien Küche, Toilette und Dusche auf der Etage teilt. Privatsphäre gibt es nicht. Und was als Übergangslösung für wenige Wochen gedacht war, wird für Petra und ihre Familie schnell zu einer Sackgasse: "Wir haben schon 34 Wohnungsabsagen bekommen. Mit einem schlechten SCHUFA-Eintrag haben wir einfach keine Chance." Nur ein Vermieter mit Herz könnte ihnen und vor allem dem achtjährigen Deniz noch eine Zukunft geben. Wegen Eigenbedarf gekündigt Lorina L. ist Sozialarbeiterin, ihr Lebensgefährte Anlagetechniker. Noch leben sie mit drei Kindern in ihrer Wohnung, aber schon seit vier Monaten ohne Mietvertrag, denn der Vermieter hat ihnen wegen Eigenbedarf gekündigt - und das, obwohl ihr viertes Kind in wenigen Wochen zur Welt kommt. Die Chance, bezahlbaren Wohnraum für sechs Personen zu finden, scheint aussichtslos: "Schon am Telefon winken Vermieter ab, vier Kinder seien zu viel. Wir kommen uns wie asozial abgestempelt vor, nur weil wir eine Großfamilie sind." Vor wenigen Tagen flatterte die Räumungsklage ins Haus, und der bald sechsköpfigen Familie droht nun die Obdachlosigkeit. "Wir wissen einfach nicht, wohin wir sollen. Die Notunterkunft ist voll, ein Albtraum, uns läuft die Zeit davon." Insgesamt fehlen 1,9 Millionen bezahlbare Wohnungen. Das bekommen auch Chris und Daniela zu spüren. Sie und ihr fünfjähriger Sohn Giulio verloren die Wohnung wegen Eigenbedarf. Beide arbeiten als Gebäudereiniger in Vollzeit, aber ihr Gehalt reicht nicht, um die horrenden Mieten zahlen zu können. Außerdem ist der Markt so eng, dass Chris und Daniela bei Besichtigungsterminen oft in langen Schlangen stehen, um eine günstig angebotene Wohnung überhaupt besichtigen zu können. "Die Konkurrenz ist einfach zu groß. Wir standen schon zu hundert vor einer Tür." Auch sie landeten zunächst im Obdachlosenheim. "Da waren wir mit Suchtkranken zusammen, für unser Kind unzumutbar." Um ihr Kind zu schützen, sind sie in einer billigen Pension untergekommen und arbeiten in Schichten, einer nachts, der andere am Tag, damit immer einer beim Sohn bleiben kann. Ihre Wohnungssuche haben sie bereits aufs Land ausgeweitet, weil es hier billiger ist. "Wenigstens haben wir einen sicheren Job. Und wenn wir jeden Tag zwei Stunden Fahrtzeit bis zum Arbeitsplatz auf uns nehmen müssen, weil wir eine Wohnung im Dorf finden, Hauptsache wir haben endlich wieder ein Dach über dem Kopf." "37°" begleitet drei obdachlose Familien in ihrem Alltag ohne feste Bleibe und bei der verzweifelten Suche nach einer bezahlbaren Wohnung. 37 Grad Autorin Katrin Wegner über ihren Film Zahlen sind alarmierend Wohnungslose Familien in Deutschland sind kaum sichtbar. Dabei belegen die neusten Zahlen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V., dass zum ersten Mal mehr Familien mit Kindern, nämlich 71 Prozent gegenüber 48 Prozent ohne Kinder, wohnungslos geworden sind. Das ist alarmierend und ein Beweis dafür, dass immer mehr Familien obdachlos werden. Die Gründe sind vielfältig: laut der Studie verloren 30 % ihre Wohnung nach Kündigung durch den Vermieter, 5 % im Verlauf eines Prozesses von Räumungsklage und 16 % durch Zwangsräumung. In 66 % der Fälle erfolgte die Zwangsräumung aufgrund von Mietschulden, in 7 % wegen Eigenbedarfs und in 27 % wegen anderer Probleme. Während meiner Recherchen traf ich besonders häufig Familien, die ihre Wohnung wegen Eigenbedarfs verlassen mussten, am zweithäufigsten stieß ich auf Familien, die wegen Mietschulden wohnungslos geworden waren. Ihre Schulden entstanden durch Jobverlust, Krankheit oder Trennung. Ein Vermieter darf bereits bei zwei Monatsmieten im Rückstand fristlos kündigen. Seine Sicht und sein Handeln sind verständlich, denn für viele Vermieter ist die vermietete Wohnung eine Existenzgrundlage. Und eine fristlose Kündigung ist gesetzeskonform, egal ob mit oder ohne Kinder. Endstation für viele Familien ist die Straße, der Unterschlupf bei Bekannten oder Freunden oder die Notunterkunft. Wenn Kinder mit im Boot sind, spielt der Grund, warum eine Familie in diese Notlage kommt, für mich erst mal keine Rolle. Entscheidender ist die Frage: wo kommen diese Familien sicher unter, damit sie als nächstes ihre Situation aufarbeiten können? Ein Recht auf Notunterkunft Ich traf Familien, die waren völlig auf sich allein gestellt. Sie wandten sich zwar sofort ans Amt und baten um Hilfe, weil sie nicht wussten, wo sie noch in der kommenden Nacht schlafen sollten. Erschreckend aber war: Einigen Familien wurde nicht geholfen. Und die Begründung der Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter war, dass es zurzeit keine Wohnungen gebe, man deshalb nichts für sie tun könne. Dabei gibt es in Deutschland ein Recht auf Notunterkunft, und das gilt für jede Kommune. Ist die Notunterkunft belegt, müssen die Kosten für eine Pension oder ein Hotel übernommen werden - wenn eine besondere Härte vorliegt. Dass ich in einem Sozialstaat Kinder in Obdachlosenheimen antreffen würde, in denen auch Einzelpersonen, die schon seit Jahren auf der Straße leben, untergekommen sind, hätte ich vor Recherchebeginn kaum geglaubt, aber wurde schnell eines Besseren belehrt: In Deutschland gibt es keine einheitliche Regelung, wo Familien in dieser akuten Notlage untergebracht werden. Es gibt zwar separate Häuser nur für Familien, aber es gibt auch Orte, in denen es keine getrennten Familienbereiche gibt. Daniela, Christian und der kleine Guilio fanden zunächst Unterschlupf in einem Wohnungslosenheim, in dem sie sich die Küche, das Bad und andere Gemeinschaftsräume auch mit Einzelpersonen teilten, die schon seit Jahren ohne Wohnung waren, teilweise Menschen mit Suchtproblemen. Für Kinder eine Zumutung, wie ich finde, weil es sie mit Lebenswelten konfrontiert, die nicht immer leicht zu verkraften sind. Neben einem Dach über dem Kopf auch Betreuung Petra und ihre Familie hatten Glück: Sie fanden einen Platz in „Die Teupe“, eine Einrichtung der GEBEWO. Sie bietet eine Extra-Unterkunft für Einzelpersonen und hat ein separates Haus nur für wohnungslose Familien. Das Besondere an diesen Häusern: Hier betreuen Psychologinnen und Psychologen, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter die Betroffenen, bieten Hilfe und Unterstützung. Weitere Einrichtungen mit diesem Betreuungsangebot gibt es neben Berlin auch in München, Nürnberg und Köln, um nur einige Orte zu nennen. Aber diese Häuser sind so voll, dass sie den wachsenden Bedarf gar nicht mehr decken können. Und in München und Berlin werden diese Wohnheime von Jahr zu Jahr mehr, weil es immer mehr wohnungslose Familien gibt, der Bedarf an Notunterkünften immer größer wird. Während meiner Recherchen traf ich wohnungslose Eltern mit und ohne Arbeit. Viele gaben zu, dass der Wohnungsverlust ihre Schuld gewesen sei. Manche resignierten zu früh, andere trafen falsche Entscheidungen oder gerieten in finanzielle Notlagen. Dass sich dann die Dinge überschlugen, die sie in die Obdachlosigkeit stürzen ließen, kam aber einzig und allein nur durch die angespannte, katastrophale Wohnungsmarktsituation zustande. Und es ist leider eine Tatsache: Bezahlbarer Wohnraum ist knapp in Deutschland. Laut Hans-Böckler-Stiftung fehlen fast zwei Millionen Sozialwohnungen. Daneben steigt der Niedriglohnsektor, arbeiten immer mehr Menschen für wenig Geld und konkurrieren dann um die wenigen, bezahlbaren Wohnungen. Die meisten Familien, die ich traf, lebten in Stuttgart, München, Frankfurt, Hamburg oder Berlin. Gerade in den Großstädten explodieren die Mieten. Und es existiert kein Vorrang für Familien mit Kindern. Die wohnungslosen Familien, die ich sprach, bemühten sich alle intensiv um bezahlbaren Wohnraum und wenn sie sich auf Angebote bewarben, waren sie eine Familie von zig anderen. Manchmal standen sie sogar in einer Schlange von fast hundert Wohnungssuchenden, die alle diese eine Wohnung besichtigen wollten. Mit einer schlechten Schufa, Adresse im Wohnungslosenheim, einem schlecht bezahlten Job oder mehr als zwei Kindern haben sie kaum Chancen auf dem angespannten Wohnungsmarkt, bei dem die Nachfrage weit größer ist als das Angebot. In dieser Lage sitzen Vermieter am längeren Hebel und können sich die für sie attraktivsten Mieter aussuchen. Auch beim Wohnungsamt gibt es keine Bevorzugung, trotz akuter Notlage, weil es nach Antragstellung und Datum geht, und weil auch hier die Warteliste lang ist, das Wohnungsangebot begrenzt. Kinder leiden besonders unter der Situation Petra und ihre Familie würden heute noch im Wohnheim leben, wahrscheinlich auch noch die nächsten paar Jahre, wenn sie nicht mit viel Glück auf die Maklerin Doris Ostermeier gestoßen wären, die Mitgefühl zeigte und sich zum Wohl des achtjährigen Deniz einsetzte. Der Vermieter gab der Familie trotz schlechter Schufa eine Chance, weil er es aus seinem Bekanntenkreis kannte, tief zu fallen und nur durch eine zweite Chance wieder hoch zu kommen. Seitdem Deniz wieder ein eigenes Bett hat, sein eigenes Zimmer, lebt er auf, hat viele Freunde in seiner neuen Schule gefunden, lernt rasant schnell lesen und schreiben. All das war in der Zeit der Wohnungslosigkeit blockiert. Denn gerade die Kinder leiden besonders unter der Situation. Lorina lebt mit Manuel und ihren vier Kindern im Speckgürtel Frankfurts. Ich konnte kaum glauben, was dieser Familie während ihrer verzweifelten Wohnungssuche passierte, übernahm kurz vor Geburt von Lorinas viertem Kind selbst ihre Rolle und schrieb in ihrem Auftrag Vermieter an. Auch ich bekam zur Antwort: Die Vier-Zimmer-Wohnung sei zu klein für sechs Personen, so viele Kinder wären nicht gut fürs Haus und musste schnell feststellen, dass es kaum bezahlbare Wohnungen für sechs Personen gibt und wenn sie zur Vermietung freistehen, sind Großfamilien nur selten erwünscht. Bei diesem kinderfeindlichen Wohnungsmarkt wurde der Leiter der katholischen Jugendherberge zum Retter in letzter Sekunde. Lukas Hartmann bot der Familie die Dienstwohnung in seinem Jugendhaus St. Kilian und blieb damit der einzige, der der Großfamilie ein Dach über dem Kopf bot. Ich traf viele ganz besondere Menschen, die sich für die Schwächsten in unserer Gesellschaft einsetzen und viel Gutes tun, alles in ihrer Freizeit: Zum Beispiel Norbert Räder und Stefan Mey. Sie sind ständig unterwegs, um Menschen in Not unbürokratisch und schnell zu helfen. Sie setzten alles in Bewegung, um Daniela, Christian und Guilo zu unterstützen. Mich hat berührt, wie die Familien im Film, Petra und Cordula, Daniela und Christian, Lorina und Manuel beständig versuchten, ihr Zusammenleben, ob in der Pension, in der Notunterkunft, im Wohnheim oder kurz vor der Zwangsräumung, so liebevoll und fantasievoll wie möglich zu gestalten, um ihren Kindern die Not weniger spüren zu lassen. Sie engagierten sich, machten weit mehr Ausflüge als früher, verbrachten viel Zeit auf Spielplätzen, nur um den winzigen Zimmern immer wieder zu entkommen. Dabei verbargen sie ihre eigenen Ängste, obwohl ihnen das Wasser bis zum Haus stand, versuchten den Kindern Abwechslung, Halt und Geborgenheit zu geben. Es war ein kräftezehrender Weg, ein Dach über dem Kopf zu finden. Langsam kommen die Familien wieder zur Ruhe, aber die letzten Monate haben sie traumatisiert, und sie brauchen sicher noch viel Zeit, um das alles zu verarbeiten. </ul> </section> Weitere Reportagen Doku | 37 Grad - Trotz Arbeit keine Wohnung Videolänge 28 min Doku | 37 Grad - Zu teuer, zu klein, schon weg Videolänge 29 min Doku | 37 Grad - Wo Armut Alltag ist Videolänge 28 min Doku | 37 Grad - Erst die Kinder, dann ich Videolänge 28 min Doku | 37 Grad - 22qm Deutschland Videolänge 29 min Doku | 37 Grad - Zwei Quadratkilometer Stress Videolänge 28 min Weitere laden </article> Auch interessant Weitere laden </main> Footer mit Inhaltsangabe nach oben Mehr ZDF ZDFapps Smart TV ZDFtext Livestreams Sendungen A-Z TV-Programm ZDF woanders ZDF YouTube ZDF Facebook ZDF Twitter ZDF Instagram Service Tickets Zuschauerservice Kontakt zum ZDF Sitemap Hilfe Das ZDF ZDF Unternehmen Karriere Presseportal ZDF Shop Werbefernsehen Mainzelmännchen Partner Nutzungsbedingungen Datenschutz Impressum
Dieser Film wird am 04.12.2025 um 14:30Uhr depubliziert!

Sender: ZDF