Können Tote Leben retten?

Was Körperspenden für die Medizin bedeuten

Quelle: ARD-Pressebild
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Für Roland B. ist die Sache klar: "Nach meinem Tod soll mein Körper in die Anatomie kommen. Es ist doch gut, dass die Studenten direkt an einem Toten lernen können!" So nüchtern wie der 68-Jährige schauen viele Menschen aus Leipzig auf ihr Sterben. Rund 5000 haben sich am Institut für Anatomie gemeldet, um ihren Körper der Wissenschaft zu vermachen.
Prof. Ingo Bechmann leitet das Institut. Er sorgt dafür, dass rund 400 angehende Medizinnerinnen und Mediziner im Präparationskurs an 40 konservierten Leichen Zellen, Knochen und Organe genauestens studieren können. Prof. Bechmann dazu: "Es gibt viele Momente im Kurs, die zu großem Erstaunen führen. Also wenn wir zum Beispiel ins Kniegelenk hineingucken. Es hat jeder schon gehört, was es für Strukturen gibt. Aber sie dann wirklich selbst in der Pinzette zu halten … Das sind Momente, wo die Anatomie dadurch überwältigend ist, dass es hier zum Anfassen und zum Anschauen ist."
"Ich bin manchmal albern und stelle mir vor, wie ich da liege, und die Studenten schnipsen noch mal an der großen Zehe, und ich lache dann nicht mehr, denn ich bin tot", erzählt Körperspenderin Eva-Maria H., die sich vor Jahrzehnten für diesen Weg entschieden hat.
Im Film berichten fünf künftige Spender und Spenderinnen von ihrem Entschluss. Alle erzählen offen, gewitzt und gefasst wie die 80-jährige Eva-Maria: "Wenn Leute, die viel klüger sind als ich, mich um Hilfe bitten, mich brauchen, dann bin ich stolz, das ist mein Beitrag!" Dafür nehmen diese Menschen einiges auf sich. Sie verzichten auf eine schnelle Beerdigung, denn bis zu drei Jahre können die Präparate im Institut gebraucht werden. Und ist es nicht ein Tabu, so lange über der Erde zu bleiben? Vor allem für Angehörige ist das manchmal schwer auszuhalten.
Können Tote Leben retten? Jaqueline L. und ihr Sohn Oskar sind der Beweis dafür. Die junge Leipzigerin ist schwanger, als sie im Herbst 2017 die Diagnose Krebs erhält. Ein bösartiger Tumor hat sich in ihrem Gebärmutterhals gebildet. Daneben reift ihr Ungeborenes heran. Wird sie den Krebs überleben? "Ich hatte wahnsinnige Angst, dass ich den Kleinen verlieren könnte, dass das Kind deswegen nicht lebenswert ist. Die Schwangerschaft stand für mich im Vordergrund", beschreibt die Mutter diese Zeit. Wochenlang scheint das Schicksal der beiden ungewiss.
Dann wird Jaqueline L. operiert, und ihr Kind dabei auf die Welt geholt. Zum Glück kann bei ihr eine neue Methode angewendet werden, die den Krebs sicherer und schonender als bei der herkömmlichen Operation bekämpft. Die Idee dazu kam Professor Michael Höckel bei der Arbeit mit gespendeten Präparaten in Leipzig. Er erkannte sogenannte Krebsfelder, also in welchen Gewebegrenzen sich Krebs regelmäßig ausbreitet. Aus diesen anatomischen Gesetzmäßigkeiten leitete er neue Techniken für die OP ab.
Sein Wissen gibt er zusammen mit seiner Nachfolgerin, Prof. Bahriye Aktas, nun in Workshops an andere Fachärzte weiter. Sie betont: "Wir erreichen mit unserer Operationsmethode deutlich bessere Ergebnisse als mit den bislang üblichen Standardverfahren." An einem verblüffend lebensecht präparierten Körper führen sie die innovativen Techniken vor. Rechnet man den Wert ihrer Lehre einmal um, lässt sich sagen, dass jede Körperspenderin hilft, rund 2600 krebskranke Frauen vor dem Tod zu bewahren.
Institutschef Prof. Ingo Bechmann ist Experte für Alzheimer. Er will wissen, wie sich Immunzellen im Gehirn bei beginnender Demenz verhalten. Verursachen Umweltgifte wie die breit eingesetzten Weichmacher Alzheimer? Dafür arbeitet er mit einem reichen Schatz an menschlichen Hirnpräparaten, statt wie andere Forschende Maushirne zu untersuchen: "Man braucht aber hohe Fallzahlen, um sich ein Bild zu machen und wirklich Kausalität herzustellen. Ich muss also geduldig und lange schauen." Einen Teil der Hirnpräparate betrachtet der Wissenschaftler am Mikroskop, andere Präparate werden vergleichend auf epigenetische Veränderungen und Giftstoffe untersucht. So könnte Alzheimer mit
Hilfe von Körperspenden weiter entschlüsselt werden.
Es klingt unglaublich, dass heute noch längst nicht alle anatomischen Strukturen des Menschen bekannt sind! Aber es gibt immer wieder anatomische Entdeckungen, wie zum Beispiel die Faszien. In Leipzig forscht Doktorandin Dina Wiersbicki an dem Gewebe, das bis vor einigen Jahren kaum beachtet wurde. Sie vermutet, dass Fasziengewebe in der Wirbelsäule Schmerzen bereiten kann, die heute einfach noch nicht ergründet sind. Mit Hilfe von 600 feinen Schnitten durch präparierte Wirbelkörper beschreibt sie, wie die dünnen Faszienbänder aussehen und sich verhalten. Ihr Ziel ist es, das Gewebe zum Beispiel in MRT-Bildern sichtbar zu machen. Und in weiter Zukunft könnten Rückenschmerzen hoffentlich besser behandelt werden – auch durch die Körperspenden.

Die Sendung wird ausgestrahlt am Donnerstag, den 29.09.2022 um 00:50 Uhr auf RBB.