HerStory (4/4)

Die Frauen und das Wirtschaftswunder

Quelle: ARD-Pressebild
Quelle: ARD-Pressebild

10. August 1955: In goldenem Lack läuft im Werk von VW in Wolfsburg der Millionste Käfer vom Band. Mit rasender Geschwindigkeit scheint es in der jungen Bundesrepublik nur aufwärtszugehen.
Das Wirtschaftswunder der 1950er-Jahre ist eine Erfolgsgeschichte für alle, so steht es in den Geschichtsbüchern. Und laut Grundgesetz der Bundesrepublik von 1949 sind Frauen und Männer inzwischen gleichberechtigt. Aber wie sieht das Leben wirklich aus, das Gesamtbild?
Illustriert mit bislang unveröffentlichten, hochwertig restaurierten Farbfilmen der 1950er- und frühen 1960er-Jahre blickt die Dokumentation mit den Augen der Frauen auf das Wirtschaftswunderland. Welchen Anteil haben sie am neuen Wohlstand?
Die Amateurfilme zeigen: Frauen steigen meist durch die Beifahrertür ins Auto, denn am Steuer sitzt - natürlich - ein Mann. Als Ehefrauen dürfen sie nur erwerbstätig sein, wenn es mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist. Und wenn sie mitarbeiten am Aufschwung, dann zumeist als Hilfskräfte an den vielen Fließbändern und Schreibmaschinen der Zeit. Studieren und Karriere machen? Für diesen Wunsch werden Frauen von den Männern belächelt.
Möchte eine Frau teilhaben am Wirtschaftswunder, dann braucht sie einen gut verdienenden Ehemann. Satte 45 Prozent verdienen Frauen für exakt die gleiche Arbeit weniger als Männer. Und die Hausarbeit? Natürlich allein Frauensache, und ein Knochenjob. Denn anders als die Werbefilme der Zeit es vermuten lassen, sind effiziente Haushaltshelfer noch wenig verbreitet und nur für wenige erschwinglich. Eine Überreizung beklagen viele Frauen - heute würde es Burnout heißen.
Die Dokumentation "HERstory - Die Frauen und das Wirtschaftswunder" beleuchtet auf eindrückliche Weise, dass die Erfolgsgeschichte des Wirtschaftswunders und das Klischee der glücklichen Hausfrau und Mutter nur die halbe Wahrheit ist. Zum vollständigen Bild gehören die Erschöpfung, die Einsamkeit, die Abhängigkeit und die Armut vieler Frauen in den 1950er-Jahren. Zeit also, dieses Kapitel der deutschen Geschichte aus der weiblichen Perspektive zu betrachten. Ist die Reise in die 1950er- Jahre eine Expedition in eine andere Welt? Oder steckt das damals etablierte Rollenmodell noch immer in unseren Köpfen?
Über Jahrhunderte erzählten und deuteten Männer Geschichte, schrieben HIStory, waren Maß und Norm für Wissenschaft, Rechtsprechung und Ingenieurskunst. Es ist also höchste Zeit, endlich das ganze Bild zu malen. Nicht allein aus Prinzip, aus dem Wunsch nach Gleichbehandlung heraus, sondern weil es im Extremfall sogar tödlich sein kann, wenn die Hälfte der Menschheit im toten Winkel bleibt. Und was wäre, wenn nicht HISTORY, sondern "HERstory" in den Geschichtsbüchern erzählt werden würde?
Film von Linn Sackard

Die Sendung wird ausgestrahlt am Mittwoch, den 31.08.2022 um 09:20 Uhr auf HR.