Das Rote Imperium (2/3)

Großer Krieg und neue Träume

Quelle: ARD-Pressebild
Quelle: ARD-Pressebild

Mit dem Fall "Barbarossa" 1941 drohte dem Roten Imperium plötzlich der Untergang. Es entwickelte sich ein erbarmungsloser Krieg voller Tiefpunkte und Traumata. Stalin beschwor den Großen Vaterländischen Krieg und hatte Erfolg damit. Die Sowjetunion war nach dem Sieg über Hitlers Heere so groß und mächtig wie nie zuvor, aber auch so kaputt wie nie zuvor. Dennoch war das Imperium plötzlich eine weltpolitische Größe. Der entscheidende Schritt Richtung Supermacht gelang 1949 mit der Zündung der ersten sowjetischen Atombombe. Dann starb Stalin, und Nikita Chruschtschow wurde neuer Kremlchef. Seine Geheimrede 1956 und die Entlarvung des bis dahin "gottgleichen" Stalin als Verbrecher erschütterten den gesamten Ostblock. Offen blieb, wie weit die Erneuerung vorangetrieben werden sollte.
Auch unter Chruschtschow blieb die Landwirtschaft hinter allen Plänen zurück. Es musste Getreide aus den USA gekauft werden, eine der größten Demütigungen. Chruschtschows Stern sank mit jedem Fehlschlag. 1964 war er plötzlich Pensionär und ohne Amt, gestürzt von Leonid Breschnew. Der neue Kremlchef war kein Mann flotter Sprüche, sondern ein kühler Pragmatiker. 1968 ließ er den Prager Frühling mit Panzern niederwalzen, ein klares Signal nach außen, den Machtbereich des Imperiums nicht anzutasten. Nach innen waren die Signale ebenso eindeutig. Alle, die gegen sein Sowjetsystem aufbegehrten, hatten mit Repressionen aller Art zu rechnen. Die Probleme innerhalb der Sowjetunion wurden allerdings immer gravierender - im Zentrum, aber auch in den Republiken.
Die Sowjetunion. Unvorstellbare Landmassen, die sich über zwei Kontinente erstrecken und über mehrere Klima- und elf Zeitzonen. Ein Sechstel der Erde. Vom ewigen Eis am Polarkreis bis zu den Palmen am Schwarzen Meer. Von Kaliningrad (dem ehemaligen Königsberg) im Westen bis Wladiwostok im äußersten Osten. Ein Land, in dem die Sonne nie untergeht, über Wüsten, Sümpfe, Tundra, Kaukasus, Aralsee Uralgebirge, endlose Flüsse, Steppen, Metropolen und Provinznester. Die Sowjetunion ist eines der größten Imperien in der Geschichte der Menschheit, das größte im XX. Jahrhundert. Beispiellos in jeder Beziehung, nicht nur topografisch. Ein Vielvölkerstaat, bestehend aus 15 Sowjet-Republiken: Russland, Lettland, Litauen, Estland, Kasachstan, Weißrussland, Ukraine, Usbekistan, Aserbaidschan, Armenien, Turkmenistan, Moldawien, Georgien, Kirgisien, Tadschikistan. Und selbst Russland als größte Sowjet-Republik vereint allein noch einmal über 140 Völkerschaften und Ethnien mit eigenen Kulturen, Religion und Sprache.
Die Sowjetunion war ein beispielloses Experiment, das den neuen Menschen, eine neue Gesellschaftsform erschaffen wollte. Ein menschenverachtendes Projekt, das mit dem Tod von Millionen Menschen erkauft wurde. 1922 wurde die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) gegründet. 100 Jahre danach begeben sich die renommierten Filmemacher und Russlandexperten Martin Hübner und Jürgen Ast nun auf die Spuren eines untergegangenen, und doch noch immer lebendigen, Imperiums.
Dabei setzen die Autoren vor allem auf exklusive Archiv-Bilder und exponierte Protagonisten. Als die Arbeit an der Doku-Serie begann, waren das 100. Gründungs-Jubiläum der UdSSR noch weit weg, der Ukraine-Krieg noch unvorstellbar und die diversen Archive in den ehemaligen Sowjet-Republiken noch zugänglich. „Wir haben so intensiv und expansiv in den Film-Archiven recherchiert wie noch nie zuvor. Tausende Clips, Hunderte Stunden Film. Die Ausbeute ist wirklich exorbitant.“ (M.H, J.A.). Spektakuläre Sequenzen aus den Traumfabriken made in UdSSR, grandiose und erschütternde Schlaglichter aus der beispiellosen Geschichte der Sowjetunion. Von den Anfängen 1922 bis zum Kollaps 1991. Zu den exponierten Protagonisten, die sich mit der Geschichte aus den unterschiedlichsten Positionen und Perspektiven auseinandersetzen, gehören Politiker, Historiker, Dichter, Musiker, Menschenrechtler.
Hervorzuheben wäre die Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, geboren in der Ukraine, aufgewachsen in Belarus, eine Schriftstellerin, die zu Sowjet-Zeiten nicht nur durch spektakuläre Bücher über den Afghanistan-Krieg und die Katastrophe im Tschernobyl die Menschen aufschreckte, sondern bis heute kluge und schonungslose Exkursionen durch die Seele des „Homo Sowjeticus“ unternimmt, jenes Wesens, das es so nur in der Sowjetunion gegeben hat. Produkt und Schöpfer der Sowjet-Verhältnisse gleichermaßen. „Ein Homo Sowjeticus ist ein Mensch, der nicht sich selbst gehört. Ein Wesen, wie ein Schmetterling im Beton.“ Mit ihm gelangt der Zuschauer mitten hinein in das Gravitationszentrum des Roten Imperiums und schließlich auch dorthin, wo die Fliehkräfte anfingen das ganze System auseinanderfliegen zu lassen.
Der Homo Sowjeticus ist noch immer nicht zur Ruhe gekommen. Viele der Konfliktherde im postsowjetischen Raum, die die Welt in Atem halten, sind nur zu verstehen, wenn man zurück blickt in die Geschichte der Sowjetunion.
Dreiteiliger Film von Martin Hübner und Jürgen Ast

Die Sendung wird ausgestrahlt am Dienstag, den 24.01.2023 um 23:55 Uhr auf Das Erste.