Die deutsche Identitätssuche

Jakob Augstein unterwegs durch eine bunte Republik
Film von Jakob Augstein und Paul Wiederhold
41min
Quelle: Pressebild (zdfPresse)
Quelle: Pressebild (zdfPresse)

Was darf man noch sagen? Wer darf was sagen, und wer legt das fest? Wie ist es um die Meinungsfreiheit bestellt? Der Journalist Jakob Augstein begibt sich auf eine Erkundungsreise.

Deutschland 2021, kurz vor der Bundestagswahl: Es wird leidenschaftlich über Identitäten, strukturellen Rassismus, Queerness, Feminismus und Cancel Culture gestritten. Kritiker befürchten eine Ausweitung von Tabuzonen und sehen die freie Gesprächskultur in Gefahr.

In emotional geführten Debatten lösen Äußerungen nicht selten Wellen der Empörung aus. Menschen mit Migrationshintergrund, Schwarze, Frauen und Queere kritisieren hingegen - oft mit Blick auf die eigene Lebensrealität - mangelnde Teilhabe, Ausgrenzung, Diskriminierungen und Bedrohungen. Andere monieren, dass in der Debatte verwendete Begriffe wie "alter weißer Mann" oder "weiße Privilegien" ihrerseits ausgrenzend und diskriminierend wirkten.

Erleben wir gerade einen Wandel unserer Identität? Befinden wir uns damit auf der Suche nach einem neuen kulturellen Selbstverständnis? Misst sich die Stärke einer Gesellschaft daran, wie viel Meinungsverschiedenheit sie aushält? Brauchen wir neue Spielregeln für den Diskurs? Haben wir es in Wirklichkeit mit einem Generationenkonflikt zu tun? Und: Was sagt das alles über die gegenwärtige Bundesrepublik - und ihre Zukunft aus?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, begibt sich der Verleger und Journalist Jakob Augstein auf eine filmessayistische Reise durch Deutschland. Er trifft Menschen, die in der Debatte zentrale Rollen einnehmen und dieses Land mitgestalten. Warum wird die Identitätsdebatte gerade jetzt so leidenschaftlich geführt?

Während in den 2000er-Jahren vor allem Fragen nach einer "Leitkultur" diskutiert wurden, melden sich nun auch minorisierte Gruppen häufiger selbst zu Wort, um auf Erfahrungen und strukturelle Schräglagen aufmerksam zu machen. Ein Begriff erhitzt die Gemüter: Die Rede ist von "Identitätspolitik".

Jakob Augstein trifft den Münchner Journalisten Malcolm Ohanwe, der sich in seinem Podcast "Kanackische Welle" und in seiner journalistischen Arbeit mit Fragen rund um das Thema Identität im Einwanderungsland Deutschland befasst. Ohanwe betont, alles müsse sagbar bleiben, "solange es die Würde des anderen respektiert". Große Aufmerksamkeit erlangen Ohanwes Beiträge auf dem Kurznachrichtendienst Twitter und der Social-Media-Plattform Instagram, auf denen der Journalist regelmäßig Debatten zu Alltagsrassismus anstößt. Unter dem Hashtag #KritischesWeißsein forderte Ohanwe weiße Menschen dazu auf, ihr Weißsein und die damit verbundenen Privilegien zu hinterfragen. In einigen Medien wurden Ohanwes Positionen daraufhin als Identitätspolitik kritisiert.

Beim Besuch von Gesine Schwan in ihrem Haus im Südwesten Berlins trifft Jakob Augstein auf eine entspannte Frau - nach Wochen des aufgeregten Debattierens. Die SPD-Politikerin und Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission hatte sich im Frühjahr 2021 für ihren Parteigenossen Wolfgang Thierse eingesetzt und ihn auch verteidigt. Er musste für seine Forderung nach mehr Diskurs viel Kritik einstecken. Thierse sagte, eine pluralistische Gesellschaft könne nur funktionieren, wenn die Unterschiedlichkeiten zu Wort kämen. Jene "Radikalisierungen des Diskurses" beschäftigen auch Gesine Schwan. Sie hält den Konflikt für beendet, die Debatte allerdings dauere an - nicht nur für die SPD, sondern für die gesamte Gesellschaft.

In Kiel spricht Jakob Augstein mit der Grünen-Politikerin und Vizepräsidentin des Landtags von Schleswig-Holstein, Aminata Touré, über die Realität von Mehrfach-Identitäten. Touré zitiert die Dichterin May Ayim: "Ich werde trotzdem afrikanisch sein, auch wenn ihr mich gerne deutsch haben wollt, und werde trotzdem deutsch sein, auch wenn euch meine Schwärze nicht passt" - und skizziert damit die Herausforderungen an eine deutsche Gesellschaft, die sich lange nicht als Einwanderungsgesellschaft begriffen hat. Die Tochter malischer Geflüchteter ermutigt junge und diverse Menschen, in die Politik zu gehen und die Gesellschaft im Sinne der Pluralität zu verändern.

Jakob Augstein begegnet auf seiner Reise auch dem renommierten Politologen Wolfgang Merkel, der eine zunehmende Moralisierung der politischen Auseinandersetzung beobachtet: "Weil es nicht mehr wie bei Verteilungskonflikten um ein Mehr oder Weniger, nicht um Kompromisse geht, sondern um wahr und unwahr, richtig oder falsch, um moralisch und unmoralisch. Da geht es nicht mehr primär um die Verteilung von Lebenschancen, von Einkommen und Gütern, sondern um Moralisierung und Abwertung. Das ist ein Riesenproblem für unsere Demokratie." Was sagt das über den Zustand unseres Landes aus? Was muss sich ändern? Wie können wir weitermachen?

In Berlin trifft Jakob Augstein die Autorin und Unternehmerin Diana Kinnert. 1991 als Tochter einer philippinischen Mutter und eines polnischen Vaters geboren, ist sie seit 2008 Mitglied der CDU. Kinnert - Katholikin und selbst queer - vereinbart scheinbar spielerisch eine Reihe von vermeintlich sich ausschließenden Biografien. Über sich selbst sagt sie: "Ich bin mehr als ein Sammelsurium von Minderheitenattributen." Den Ruf eines jungen, migrantischen It-Girls der CDU lehnt sie ab. Die Lust am freien Wettstreit der Ideen und am argumentativen Austragen von Differenzen - egal, ob es um Arm und Reich, Gender, Sprache oder Moral geht - verspürt sie umso mehr. Ihre Vision für Deutschland und Europa ist durch und durch divers.

Der Film geht der Frage nach, ob die zum Teil unversöhnlich geführte Debatte droht, zu einer fragmentierten Gesellschaft zu führen, in der sich lautstark formulierte Partikularinteressen durchsetzen - oder ob sich die deutsche Gesellschaft auf dem Weg zu einer neuen Identität befindet.

Quelle: Presseportal

Die Sendung wird ausgestrahlt am Samstag, den 18.09.2021 um 19:19 Uhr auf 3sat.

18.09.2021
19:19
Art:Dokumentation
Kategorie:Kultur
Themenbereich:Gesellschaft allgemein
Erstsendung: 3sat
Alternative Ausstrahlungstermine:
18.09.2021 19:19 Uhr 3sat