alpha-retro: Nachtschicht im Revier - Ein Filmbericht aus dem Ruhrgebiet

Zu Beginn der Sechzigerjahre war der Arbeitsrhythmus in der Industrie noch ganz eindeutig vom drei Schichtensystem geprägt. Frühschicht von 6.00 bis 14.00 Uhr, Spätschicht von 14.00 bis 22.00 Uhr und Nachtschicht von 22.00 bis 6.00 Uhr. Der Reporter steht kurz vor 22.00 Uhr an einer Straßenbahnschranke und beschreibt den Strom der Menschen: Die einen müssen zur Schicht, die anderen kommen von ihr. Er steht dort in Gelsenkirchen, aber er könnte mit der Straßenbahn auch nach Bochum oder Castrop-Rauxel fahren - und wäre nicht lange unterwegs. Vor 60 Jahren lebten in diesem Konglomerat von zwei Dutzend Städten mehr als fünf Millionen Menschen, d. h. das war eigentlich eine einzige riesige Großstadt. Das Fernsehteam hat sich zur Aufgabe gestellt, einmal zu dokumentieren, was in so einer Nacht im Revier alles geschieht. Zuerst geht zur Nachtschütt in eine Stahlhütte. Die Kamera begleitet einen Oberschmelzer, der im holländischen Limburg geboren ist. Nach seiner Lehre im Steinkohlebergbau und seiner Arbeit als Hauer, war er zur Hütte gewechselt und ist nun mit 26 Jahren bereits Oberschmelzer, da er in Abendkursen die entsprechenden Qualifikationen erlangte. Er verdient 3,97 Mark in der Stunde, seine Regelarbeitszeit beträgt 42 Stunden, was zu einem Monatslohn von circa 850 Euro brutto führt - viel Geld im Vergleich zum Durchschnittsverdienst eines Arbeiters in Deutschland. Auf der Hütte bekommen die Arbeiter kostenlos schwarzen Tee gegen den Durst aufgrund der großen Hitze. Wenn andererseits die schwarzen Männer im Bergbau bei Schichtende aus der Grube nach oben fahren, bekommen sie noch vor dem Waschen und Umkleiden einen halben Liter Milch zu trinken. Da ergibt tolle Bilder: rußgeschwärzte, fast schon furchterregende Gesichter kippen sich weiße Flüssigkeit aus Glasflaschen in den Rachen. Hoch interessant ist die Aufbewahrung der Arbeitskleidung der Bergleute. Sie werden quasi an einem Haken aufgehängt, der an einer Kette nach oben unter die Decke gezogen wird. Das Kettenende verschließt dann jeder mit einem eigenen Schloß. Nach der Schicht geht es in die Kneipe, denn die im Ruhrgebiet abgebaute Fettkohle macht durstig. Die klaren Schnäpse nennt der dortige Volksmund "westfälischen Landwein". Denn es war auch damals schon so: An der Theke wird der Durst erst schön. Irgendwann ist das Team am Bahnhof Dortmund, wo gerade der damals schnellste und bequemste Zug einläuft: der TEE, der die Strecke zwischen Paris und Dortmund befährt. Es bleiben nur wenige Stunden Zeit, um den Zug komplett zu reinigen und technisch zu kontrollieren. Auf der Polizeiwache mitten in der Nacht bzw. bei der Begleitung eines Streifenwagens (ein weißer VW-Käfer 1200!) erfährt der Zuschauer, was sich hinter den Codewörter "Runkelrübe", "Sauerteig" oder "Zugvogel" verbirgt. Mit Einbruch der Dämmerung machen sich dann die Bäckerjungen mit ihren Fahrrädern auf den Weg: Semmeln ausfahren. Die Zeitungsausträger sind auch schon unterwegs. Das Revier reibt sich den Schlaf aus den Augen. Im Großmarkt ist bis um sieben Uhr morgens Hochbetrieb, dann haben die Einzelhändler ihren Bedarf für den Tag eingekauft. Um sechs Uhr beginnt auch wieder eine neue Schicht: Die Nachtschicht ist vorbei und die Frühschicht beginnt. Von der Schicht weg und zur Schicht hin wird auf Fahrrädern gefahren, auf NSU-Quickly, Zündapp-Combinette, Lambretta usw. Und wer schon etwas mehr Geld hat, fährt alten Lloyd und eben einen gebrauchten VW-Käfer. Die Alltagsfahrzeuge von damals wären heute regelrechte Pretiosen. Der Produzent dieses Films war übrigens kein Geringer als Hanns J. Friedrichs.

Quelle: Presseportal

Die Sendung wird ausgestrahlt am Samstag, den 17.04.2021 um 22:35 Uhr auf ARD alpha.