Jean-Luc Nancy
Jean-Luc Nancy (* 26. Juli 1940 in Caudéran (heute Bordeaux), Frankreich; † 23. August 2021 in Straßburg ) war ein französischer Philosoph, der in der Tradition der Dekonstruktion und Phänomenologie stand.
Nach seinem Studium der Philosophie in Paris promovierte er über Immanuel Kant bei dem Philosophen Paul Ricœur. 1968 wurde Nancy Assistent an der Université Marc Bloch in Straßburg, wo er später auch eine Professur für Philosophie erhielt. Er hielt Gastprofessuren in Berkeley, Berlin, Irvine und San Diego.
Nancy beschäftigte sich in seinem Werk mit verschiedenen Fragen über Philosophie, Literatur und Zeitgeschehen bis hin zur Ästhetik. Er engagierte sich auch im gesellschaftspolitischen Kontext, sodass er u. a. 1980 mit dem Philosophen Philippe Lacoue-Labarthe das Centre de Recherches Philosophiques sur la politique (Zentrum für philosophische Forschung über Politik) in Paris gründete. Mit diesem Experiment wollte Nancy ein Nachdenken über das Verhältnis von Philosophie und Politik fördern und im Zuge dessen die Frage stellen, ob einerseits von einer „politischen Differenz“ zwischen dem Politischen (le politique) und der Politik (la politique) sowie andererseits von einem Rückzug des Politischen (retrait) gesprochen werden könne. Vier Jahre später beendeten beide dieses Projekt, da sie das Ziel nicht in angemessener Art und Weise verwirklicht sahen. Im Weiteren thematisierte Nancy, stark beeinflusst vom Denken Martin Heideggers und Jacques Derridas, die Gemeinschaftlichkeit menschlichen Seins, wobei Nancy seinen Fokus auf das Mitsein legt, das er als „singulär plurales Sein“ zu einer Grundfigur seiner Philosophie konzeptualisierte. Mit dem singulär plural sein verweist Nancy auf die ontologische Ko-Konstitution des Einen und Vielen, weder kann das Singuläre ohne eine Pluralität noch das Plurale ohne Singularität bestimmt werden. Nancy verfolgt dezidiert einen ontologischen Ansatz, eine prima philosophia, welche er aber unter den Vorzeichen des Mit-seins neu schreibt. Jedoch ist auch diese philosophische Arbeit nie von ihren politischen Implikationen entkoppelt, da sich durch die Dekonstruktion der Gemeinschaft im singulär plural sein beispielsweise entscheidende Fragen von individueller und sozialer Identität stellen.
Darüber hinaus waren die religiösen Bewegungen der Neuzeit sowie die Auswirkungen von technologischem Fortschritt und Globalisierung ein wichtiges Arbeitsfeld von Nancy. Er forcierte in seiner Auseinandersetzung mit der von ihm bezeichneten „Dekonstruktion des Christentums“ einen integrativen Stil.[ 11] Diese Tendenz wird beispielsweise in seiner Lesart des „Noli me tangere“ (Du mögest mich nicht berühren), das Christus gegenüber Maria von Magdala ausspricht, sehr deutlich. Nancy versuchte so, den Leib-Seele-Dualismus im abendländischen Denken zu durchbrechen.
In diesem Zusammenhang erwies sich insbesondere Nancys Buch L’Intrus / Der Eindringling. Das fremde Herz (2000) als einflussreich, wo er seine eigene Herztransplantation in einem philosophischen Text reflektiert. Auch in diesem durch seine Form der persönlichen Erfahrung innovativen Text wird die Vorstellung einer klar abgrenzbaren personalen Identität durch das Verschwimmen von Eigen- und Fremdheit der Körperlichkeit dekonstruiert.[ 12]
Nachdem Nancy im Jahr 2017 in einem Beitrag in der französischen Zeitung Libération geäußert hatte, dass mit dem Disput um Heideggers NS-Vergangenheit die faschistischen Anteile der westlichen Zivilisationen „exorziert“ werden sollen, Heidegger dagegen aber schon in den 1930er Jahren auch Verachtung für den Nazismus gezeigt habe[ 13] , kam es in der Folge des Widerspruchs darauf zu einer international geführten Debatte um Heideggers Rolle bezüglich der NS-Verbrechen.
Im Rahmen der Diskussion zur Corona-Pandemie unter europäischen Intellektuellen warnte er seinen Freund, den Philosophen Giorgio Agamben, vor Übertreibungen. Er erklärte ihm, warum es – rein empirisch betrachtet – falsch sei, die Corona-Pandemie zur normalen Grippe zu verniedlichen. Er erinnerte daran, wie ihm Agamben vor 30 Jahren riet, auf seine dringend nötige Herztransplantation zu verzichten und diese energisch zu einer Dummheit der modernen Medizin erklärt hatte.[ 14] In einem seiner allerletzten Vorträge („Ausser Atem sein“), den er an der Tagung Thinking in Pandemic Times an der Universität Fribourg im Mai 2021 hielt, kam er hierauf noch einmal zu sprechen[ 15] .
Unter der Regie von Claire Denis spielte Nancy in einem Teil von „Ten Minutes Older: The Cello“ (2002) mit, worin die Beziehung von Integration und Eindringen besprochen wird.[ 16] [ 17] Nancys Text „L’Intrus“ inspirierte Claire Denis zum gleichnamigen Film.
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