Sanatorium Europa
Film von Julia Benkert
Der Dokumentarfilm besucht geschichtsträchtige Sanatorien in Italien und in der Schweiz, wo Intellektuelle wie Thomas Mann, Hermann Hesse und Ernst Bloch ihr Unbehagen an der Zeit kurierten.
Wieder einmal befindet sich unsere Welt dramatisch im Umbruch. Die europäische Idee scheint so bedroht wie nie. Wie haben die großen Dichter und Denker auf die erste europäische Krise reagiert, vor und während des Ersten Weltkriegs? Welche Parallelen gibt es zu heute?
Thomas Mann und Hermann Hesse, zwei leidenschaftliche Europäer, spürten das Unbehagen an der Zeit damals wie viele andere auch. Um ihre erschöpften Nerven zu kurieren, flüchteten sie ins Sanatorium, und zwar an die oberitalienischen Seen, dorthin, wo gefühlt der Süden beginnt, das Arkadien Mitteleuropas. Zur Kur zu gehen, war schick. Überall wurden luxuriöse Heilanstalten gebaut, meist blieb man für mehrere Wochen, gar Monate. Die dekadente Gesellschaft im Reformsanatorium Professor Hartungen mit all den eingebildeten Kranken faszinierte Thomas Mann. Hier bekam er die Ur-Inspiration zum "Zauberberg", dem Abgesang schlechthin auf das sterbende Europa.
Heute steht das Sanatorium in Riva leer - eine Ruine. Für die Filmemacherin Julia Benkert symbolischer und realer Ort zugleich, um das Unbehagen an der Zeit zu analysieren. Wirken die Symptome von damals doch erschreckend vertraut: das Ausgebranntsein, der Veganer-Boom, die Hinwendung zu asiatischen Weisheiten, das Zurück-zur-Natur genauso wie der Ruf nach Führung. Die Parallelen zu heute lesen sich wie Warnzeichen vor dem nächsten großen Krieg.
Der Philosoph Andreas Weber und die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot ordnen die gesellschaftlichen Phänomene ideengeschichtlich ein und zeigen, dass viele Prozesse, die damals begonnen hatten, noch lange nicht abgeschlossen sind. Handelt "Sanatorium Europa" doch nicht nur vom Kranksein, sondern auch von Heilung.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs war die Idylle der magischen Seenlandschaft zerstört. Nur die Region um Ascona am Lago Maggiore blieb politisch neutral, weil sie zur Schweiz gehörte. Das einstige Refugium wurde zum Exil. Besonders das Sanatorium "Villa Neugeboren" zog die Intellektuellen an. Pikanterweise lag es auf dem Hügel direkt gegenüber des Monte Verità, dem legendären Wahrheitsberg. Während man drüben, im Sanatorium der Alternativen, der Kohlrabi-Esser und Naturapostel, Kunst nur zu Therapiezwecken praktizierte, entstanden in der "Villa Neugeboren" große Werke. Nächtelang wurde dort auf der Terrasse diskutiert. Man fragte sich, wie der künftige Mensch sein sollte. Fieberhaft suchten die Intellektuellen nach neuen Utopien für Europa.
Ernst Bloch, der Philosoph, der sich zum Messias berufen fühlte, beendete hier sein berühmtes Werk "Geist der Utopie". Hermann Hesse schrieb den "Demian", darin der Spruch "Sei du selbst", der zum Mantra eines ganzen Jahrhunderts werden sollte. Und so zeigt der Film, dass die Krise immer auch eine Chance bedeutet und notorische Einzelgänger wie Künstler und Schriftsteller zusammenführen kann.
Die Sendung wird ausgestrahlt am Sonntag, den 21.02.2021 um 10:31 Uhr auf 3sat.