Heinrich Böll, Ansichten eines Anarchisten

Film von Norbert Busé
46min
Quelle: Pressebild (zdfPresse)
Quelle: Pressebild (zdfPresse)

Heinrich Böll gehörte zu den großen, wichtigen Stimmen des 20. Jahrhunderts, sei es als Schriftsteller, sei es als moralische Instanz und Mahner. Was hat uns Heinrich Böll heute noch zu sagen?

Der Film schaut noch einmal ganz neu auf den Nobelpreisträger und engagierten, geistigen Kämpfer des 20. Jahrhunderts und zeigt Auszüge aus bisher unveröffentlichten Kriegstagebüchern und Briefen. Der Zuschauer erlebt einen erstaunlich modernen Denker und Dichter.

Gerade in einer Zeit, in der Grundeinstellungen und Werte neu auf den Prüfstand gestellt und emotional diskutiert werden, lohnt ein frischer Blick auf jemanden wie Heinrich Böll, der zweifelsohne eine moralische Instanz war.

Heinrich Böll, ein Mann von gestern? Jedenfalls ein Schriftsteller-Tycoon, der im Laufe seines Lebens schon mehrere Tode gestorben ist: den des Antifaschisten, Antimilitaristen und Antibourgeois. In der Erinnerung scheint er alt, grau und verstaubt. Kannte den Schriftsteller Böll Anfang der 1970er-Jahre laut einer Umfrage fast jeder Deutsche, ist er heute so gut wie vergessen. Schon lange sei er aus der Zeit gefallen, spötteln Kritiker, und in der Schule gehört er seit einiger Zeit nicht mehr zur Pflichtlektüre.

"Bei zukünftigen Demonstrationen könnte er vielleicht wieder eine Rolle spielen", meint dagegen der Theaterregisseur Thomas Jonigk. "Seine Stimme bietet mir auch heute noch eine Orientierung", so Jonigk weiter. Seine Theaterfassung von Bölls "Ansichten eines Clowns" feierte Anfang 2017 große Erfolge in Köln.

Haben die, die Heinrich Böll bereits zu Grabe trugen, vielleicht etwas Wichtiges übersehen? Die Dokumentation sucht in seinen Kriegstagebüchern nach Antworten. Die Dokumente wurden 2017 erstmals veröffentlicht - eine kleine Sensation. Heinrich Böll wollte sie zeitlebens unter Verschluss halten. Warum nur? Es reicht, nur ein paar Zeilen darin zu lesen, dann ereignet sich etwas, was Generationen zuvor fasziniert haben muss: Bölls einzigartige Sprache.

Und sofort wird der am 16. Juli 1985 gestorbene Autor wieder aktuell: Wie übersteht man psychisch einen Krieg, wenn man ihn überlebt hat? In Anbetracht so vieler Kriege weltweit eine ganz wichtige Frage. Eine, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Die Tagebücher Heinrich Bölls aus den letzten beiden Jahren des Zweiten Weltkriegs zeigen, was den jungen Soldaten beschäftigte: "Ich habe Angst vor dem Leben und stelle fest, dass ich die Menschen hasse! 155 Tage Hölle." "Durch den Krieg wurde ich zum Verächter der Männlichkeit", gibt Böll später in einem Interview zu. Auch die 2001 veröffentlichten "Briefe aus dem Krieg" an seine Frau Annemarie dokumentieren eindrucksvoll, wie sehr aus einem naiven Mitläufer ein überzeugter Kriegsgegner wurde.

"Neben Thomas Mann war der Nobelpreisträger Heinrich Böll der geistige Repräsentant des 20. Jahrhunderts", so sein Biograf Ralf Schnell. Bis heute steht er emblematisch für den "guten Deutschen", den "linken Protest" und den "politischen Dichter". Doch so einfach einem diese Zuschreibungen einfallen, bei genauerer Betrachtung verdecken sie den anderen Böll. Den, der sich in den Tagebüchern und den Briefen an seine Frau lange versteckt hielt und nur selten offen über seine Überzeugungen sprach. Man konnte es aber ahnen, aus welcher Quelle Böll schöpfte, wenn er sich mit Konrad Adenauer auseinandersetzte, dem politischen Protagonisten der jungen Bonner Republik - und eine Art Gegenfigur zu Böll. Dann zeigte sich nämlich sein tiefer christlicher Glaube.

Bis heute stehen Böll und Adenauer für die verschiedenen Pole Deutschlands nach dem Krieg, für seine komplementären Vertreter, den "rechten und den linken Schuh der jungen Demokratie". Durch die 1950er-Jahre hindurch kämpft der christliche Pazifist Böll leidenschaftlich gegen Adenauers Wiederbewaffnung, Aufrüstung und das Konzept der atomaren Teilhabe. Unermüdlich stellt er sich gegen Militär und Krieg. "Wann gab es einen Fall gerechter Verteidigung? Wer will je herausfinden, wo Verteidigung anfängt oder Angriff aufhört?" In seinem Radio-Essay "Brief an einen jungen Katholiken" beklagt er 1958 eine Kirche, die den Moralbegriff nur als Sexualmoral verhandelt, anstatt mit ihm Gewalt und Soldatentum zu befragen. Damals war das ein Skandal, sodass der katholische Intendant des Süddeutschen Rundfunks den Beitrag kurz vor der Ausstrahlung aus dem Programm nahm.

Und heute? Heinrich Böll sah die Rolle, die Künstler in der deutschen Gesellschaft einnehmen sollten, ganz klar: Die Kunst muss, frei von jeder kommerziellen Verwertbarkeit, in einem grenzfreien Raum, eine Gesellschaft infrage stellen dürfen. In seinen Widersprüchen, Ängsten und geglückten Formen kann Kunst zur Katharsis führen und frei machen, das eigene Leben besser zu beurteilen. "Die Kunst muss anarchisch sein", formulierte Böll in den 1970er-Jahren, "Anarchie ist der Wunsch nach Herrschaftslosigkeit und auch der Wunsch, selber nicht zu herrschen."

Die Anarchie in der Kunst, die in der Sprache ihren Ausdruck findet, ist heute zumindest in Deutschland selbstverständliches Kulturgut, musste nach dem Krieg aber erst errungen werden. Das wird gerne übersehen. Auch, dass Böll einer der Ersten war, der unter großen persönlichen Opfern bereit war, für diese Freiheit zu kämpfen. Böll wollte nach dem Zweiten Weltkrieg einen christlichen Neustart, eine Gesellschaft mit menschlicherem Antlitz. Vieles, was uns heute selbstverständlich scheint, nahm mit ihm seinen Anfang. Zu den heute immer wieder aufkommenden Fragen zum Thema "Deutsche Leitkultur" hätte er sicher Streitbares beizutragen. Das zeigt, welche Relevanz er auch heute noch hat.

Quelle: Presseportal

Die Sendung wird ausgestrahlt am Sonntag, den 16.12.2018 um 12:14 Uhr auf 3sat.

16.12.2018
12:14
Art:Dokumentation
Kategorie:Kultur
Themenbereich:Literatur
Erstsendung:02.12.2017 3sat