Bauernhof statt Altersheim

Agnes Leusch zieht aus einer kleinen Stadtwohnung auf den Hof der Familie Müller. Wie kommt sie zurecht? Ein halbes Jahr begleitet "37 Grad" die Hofgemeinschaft – neun Senioren und Familie Müller, die Hofbesitzer. Kann man auf einem Bauernhof besser alt werden? Mit Blick auf die "Esel-Wiese" Agnes Leusch ist 84 und lebt allein in einer kleinen Etagenwohnung in Meschede in Nordrhein-Westfalen. Sie ist sehr rüstig und fährt noch selbst Auto. Aber sie spürt, dass die Kräfte täglich nachlassen, möchte für die Zukunft vorsorgen, wenn sie nicht mehr allein zurechtkommt. Doch ein Altersheim kommt für sie nicht infrage: "Den ganzen Tag nur herumsitzen, das würde ich nicht aushalten, ich muss immer etwas zu tun haben", sagt sie. Deshalb zieht Frau Leusch in eine Seniorengemeinschaft auf einem Bauernhof. Auf dem Hof der Familie Müller in Brilon ist sie nicht allein, bekommt so viel Hilfe, wie sie braucht, und kann, wenn sie möchte, im Haushalt oder auf dem Hof mithelfen. "37 Grad" begleitet Frau Leusch beim Abschied von ihrem Zuhause und lernt mit ihr die anderen Senioren kennen, die auf dem Hof der Familie Müller wohnen. In Zukunft wird sie von ihrem Küchenfenster aus direkt auf die "Esel-Wiese" blicken und viele Möglichkeiten haben, am Hof- und Dorfleben teilzunehmen. Senioren-WGs auf Bauernhöfen In den Niederlanden, Norwegen, der Schweiz und Österreich gibt es bereits mehrere Tausend landwirtschaftliche Betriebe, die Senioren unter dem Begriff "Green Care" eine solche Wohnmöglichkeit als Alternative zum Altersheim anbieten. In Deutschland existieren gerade mal rund zwei Dutzend betreute Senioren-Wohngemeinschaften auf Bauernhöfen. Sie ermöglichen einen Lebensabend in familienähnlichen Strukturen mit dem typischen Alltagsleben auf dem Land. Die Pflege übernimmt bei Bedarf ein Pflegedienst. Die Betreiber wollen den Bewohnern im fortgeschrittenen Alter mehr Eigenständigkeit und Lebensqualität bieten, auch wenn sie gebrechlich oder dement sind. Dabei sind die Kosten wesentlich geringer als im Altersheim. Leben wie in der Großfamilie Treffpunkt für die Bewohner auf dem Hof der Familie Müller ist die große Wohnküche, in der Betriebsleiterin Andrea Müller (56) täglich für alle kocht, die das nicht mehr selbst machen können oder möchten. Auch Putzen und Wäsche waschen kann individuell dazugebucht werden. Es gibt Esel, Pferde, Hunde und Katzen. Eier und Milch holen die Senioren beim Nachbarn. Die erwachsenen Kinder der Familie Müller leben auch auf dem Hof. Am Nachmittag gehen alle zusammen mit den Eseln spazieren oder treffen sich abends zum Grillen. Jeder Geburtstag wird gemeinsam gefeiert. "Wir leben hier wie in einer Großfamilie", so Andrea Müller. In Zeiten des demografischen Wandels und Hof-Sterbens ist das Konzept "Senioren-Bauernhof" jedenfalls nicht nur eine attraktive und kostengünstige Alternative für die Senioren, sondern auch Hilfe für Bauernhöfe und für die Dörfer insgesamt. Aber geht dieses Konzept auch auf? Welche Vorteile bietet diese Wohnform für die Bewohner? Was passiert, wenn Pflege notwendig wird oder bei Demenz? Eine Alternative zum Altenheim "37 Grad" hat die Hofgemeinschaft mehrere Monate mit der Kamera begleitet und Agnes und die anderen Bewohner näher kennengelernt. Zum Beispiel Erwin (81), der einmal in einer Band spielte, jetzt täglich den Hofhund ausführt und den jeder im Dorf kennt. Oder die pflegebedürftige Jana, die immer noch rege am Hofleben teilnimmt. Ist der Lebensabend auf dem Bauernhof eine gute Alternative zum Altersheim, ein besseres Modell für die Zukunft? "37 Grad" geht dieser Frage nach. 37 Grad-Autorin Sibylle Smolka über ihren Film Die Vorzüge des Landlebens genießen Den Lebensabend auf einem Bauernhof zu verbringen, das finden natürlich viele gut – ich auch. Und erste Studien bestätigen, dass das ein gutes Konzept ist. Aber wir wollten uns anschauen, wie das Leben auf einem solchen Hof tatsächlich aussieht. Es war schnell klar, dass kaum einer der Höfe, auf denen Senioren wohnen,  zu 100% dem Bauernhof-Klischee aus der Werbung entspricht. Meistens gibt es nur noch ein paar Tiere, dafür werden die besonders liebevoll umhegt. Und für die älteren Bewohner ist es auch kein Nachteil, wenn keine professionelle Landwirtschaft mehr betrieben wird. Es geht vielmehr darum, die Vorzüge des Landlebens zu genießen, in einer familiären Gemeinschaft zu leben und so lange wie möglich selbstbestimmt seinen Alltag zu gestalten. Passgenau für die Lebenssituation Besonders beeindruckend bei unserem Beispiel: die Vielfalt der Wohnmöglichkeiten. Selbstversorgerwohnung, betreutes Wohnen, Wohngemeinschaft,  Pflege - auf dem Hof von Andrea und Theo ist je nach Lebenssituation alles möglich, ohne das gewohnte Umfeld verlassen zu müssen. Dabei bietet das  Hofleben mit mehreren Generationen unter einem Dach, den verschiedenen Tieren und der Dorfgemeinschaft viele Möglichkeiten, sich zu beteiligen und etwas zu erleben. Alle Aktivitäten sind beiläufig und authentisch, haben immer einen Bezug zu dem, was gerade sowieso passiert. Sei es die Zubereitung des Mittagessens, die Versorgung der Esel oder Vorbereitungen für das Schützenfest. Den  Bewohnern wird so immer das gute Gefühl vermittelt, Teil eines lebendigen, großen Ganzen zu sein. Wie früher in der Großfamilie oder auf dem „Altenteil“.  Was Betriebsleiterin Andrea leistet, erfordert viel Gelassenheit und großes Fingerspitzengefühl: sich möglichst wenig in die privaten Angelegenheiten einmischen,  aber immer alles im Blick haben, und eingreifen, wenn es brenzlig wird, oder jemand Hilfe benötigt. Zusammen mit dem Pflegedienst und dem ortsansässigen Hausarzt wird so vieles in der gewohnten Umgebung möglich, was zuhause oft kaum noch zu bewältigen ist. Selbstbestimmt alt werden Obwohl eigentlich jeder Bewohner, jede Bewohnerin irgendwelche Einschränkungen hatte und es nicht immer allen gut ging, hatte ich doch den Eindruck, dass die Grundstimmung immer positiv war, und es irgendetwas gab, an dem sie sich erfreuen konnten. Bewundernswert, mit welcher Energie und Offenheit Agnes bereit war, sich der großen Veränderung  zu stellen, die der Umzug  für sie mit sich brachte. Und unvergesslich Erwins duftender Kaffee, mit dem er uns bei jedem Treffen begrüßte. Imponiert hat mir auch die Einstellung der jungen Generation. Sohn Manuel, Ende 20, meinte: „Hier auf dem Dorf machen Jung und Alt immer alles zusammen. Das ist ganz normal.“ Er will in Zukunft mit seiner Ehefrau das Konzept übernehmen und auch Seniorenwohnungen im Dorf anbieten. Das war ein Film, der mir besonders viel Freude gemacht hat und bei dem ich viel gelernt habe. Jetzt weiß ich, dass das Leben auch noch mit über 80 viele schöne Seiten hat, und es durchaus möglich ist, selbstbestimmt alt zu werden, auch wenn das Leben jeden Tag ein bisschen schwieriger wird.


Dieser Film wurde leider am 08.06.2023 um 23:45Uhr depubliziert!
Herkunft: ZDF-Mediathek
Sender: ZDF
Depublizierung: 08.06.2023 23:45Uhr
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